Heute, da er so groß ist, so richtig groß, so genau 193 Zentimeter groß, und lang, da kann sich das eigentlich niemand mehr vorstellen, daß er einmal so klein war, nicht nur so klein, wie jeder Mensch mal als Kind klein war, sondern so richtig klein, klein im Verhältnis zu den anderen Jungs in seinem Alter, in seiner Klasse, sagte Legaus. In der Turnstunde hatten sie sich immer der Größe nach aufzustellen, ordentlich wie Orgelpfeifen - und da war er doch tatsächlich der drittletzte - von 28 Leutchen. Der Drittletzte! Von Achtundzwanzig! Und gerade noch, Gott oder wem auch immer sei Dank, einen knappen Zentimeter, einen widerspenstigen Haarbüschel größer als die beiden Letzten, diese Knirpse. So blieb das Jahre lang. Bis der Schub kam. Dieser Pubertätsschub. Und der war drastisch. Offensichtlich. Sichtbar. Bei dir kann man ja zuschauen wie du wächst. Irgendjemand sagte das damals sicher irgendeinmal am Tag. Mindestens, sagte Legaus. Da war er fünfzehn, hatte immer noch Lederhosen an (obwohl er gerade von der ländlich heimatlichen Klosterschule aufs Gymnasium in der Stadt überwechseln mußte, weil es in dieser Klosterschule nur vier Klassen gab), war wie gesagt, einer der allerkleinsten, und hatte diesen Flair von Primus und Landexoten um sich (nicht von Streber, das nicht, Streber war er nie gewesen, auch damals nicht). Ich hatte das nicht nötig, sagte Legaus, mir ist immer alles ganz einfach zugefallen. Soso, spöttelte der Dachdecker, weil ihm nichts Besseres einfiel. Bis der Schub kam. Dieser Pubertätsschub. Er schoß förmlich in die Höhe. Und fiel deshalb immer häufiger um. Auch fiel ihm jetzt kaum noch etwas zu. So fiel er schließlich durch. Na also, sagte der Dachdecker und fühlte sich bestätigt. Bei dir kann man ja zuschauen, wie du wächst. So rückte er jede Turnstunde eins nach vorn. Oder zwei. Holte ein, holte auf, überholte und überholte. Wuchs und wuchs. Stand bald an zehnter Stelle, von 28 Leuten, die beim Umziehen in der vermuffelten Garderobe der Turnhalle immer eifrig wetteten, wieviel es denn heute wieder erwischen würde, wieviele wieder von ihm hinter ihm gelassen werden sollten. Diejenigen, die das letzte Mal vor einer Woche noch knapp vor ihm gelegen ... Das waren aber recht schlaffe Turnstunden, unterbrach der Dachdecker. ...also eben gestanden waren, wußten es eh schon. War das eine Freude (fast schon Schadenfreude), wenn einer wider Erwarten stand gehalten hatte, vielleicht sogar selbst ein kleines Stückchen gewachsen war, um diesen rasenden Emporkömmling niederzuhalten, eine unsinnige Schadenfreude war das. Zumindest bis zur nächsten Stunde. Er wollte es allen zeigen. Ganz vorne wollte er stehen, alle einholen, alle von hinten her aufrollen und hinter sich lassen, sagte Legaus und bestellte sich ein frisches Kännchen Kaffee. Edgar Wilhelm, der beinahe andächtig zugehört hatte, wollte ihm diese Pause nicht gönnen. Und, was weiter? Es hat leider nie geklappt, sagte Legaus, es hat leider nie so richtig geklappt. Als er an zehnter oder neunter, vielleicht auch schon achter Stelle stand, ging nichts mehr. Das Wachsen schon. Das ging nach wie vor, weiter, unaufhaltsam. Das Turnen ging nicht mehr. Sein Körper hielt das alles nicht mehr aus, dieses Emporschießen, dieses blitzartige Wachsen. Bei dir kann man ja zuschauen, wie du wächst. Also wurde er krank. Immer wieder. Fiel immer wieder um, weil ihm schwarz geworden war vor den Augen. Sogar auf der Straße, sagte Legaus. ... die Höhenluft. Daß er die Höhenluft nicht gewohnt sei, hatten sie gesagt, die Jungs aus seiner Klasse, und die anderen, die sein phänomenales Wachstum amüsiert hatte, dachte er, niemand von denen hatte sich ernsthaftere Gedanken darüber gemacht, niemand von denen hatte seine Krankheit ernst genommen, immer wenn er umgefallen war, mitten im Unterricht vom Stuhl gerutscht oder einfach auf der Straße oder im Schulhof zusammengesackt war, hatten sie sofort einen Kreis um ihn gebildet, die Jungs aus seiner Klasse, und sie hätten ihn abgeschirmt, bewacht, hatten sie gesagt, zu den anderen hätten sie gesagt, daß sie das überhaupt nichts anginge, daß sie schon wissen würden, was mit ihm los sei und wie sie das beheben könnten, und dann hätten sie ihm immer sofort Wasser ins Gesicht geschüttet, daß er wieder zu sich käme, hatten sie gesagt, dachte er, und wenn er sich wieder mühsam hochgerappelt und ziemlich verunsichert in die Gegend - nicht in ihre Gesichter - geschaut hatte, hatten sie lauthals gelacht, dachte er, und dieses Lachen hatte ihn immer wahnsinng aufgeregt, und jedesmal hatte er dann gedacht, daß er jetzt sofort wieder umfallen müsse, weil er sich so aufrege, dachte er, aber dann war er doch stehen geblieben, hatte sich das Gelächter angehört, das Wasser aus dem Gesicht gewischt und war ins Sekreteriat gegangen, um sich nach Hause schicken zu lassen, oder sich im Sanitätsraum hinzulegen, für ein paar Tropfen Melissengeist auf einem Zuckerlöffel, früher hatte es stattdessen Klosterkalmus gegeben, dachte er, und jedesmal wenn er dann wieder zu sich und zurück in die Klasse gekommen war, hatten sie wieder gelacht und gesagt, daß er die Höhenluft nicht gewohnt sei, oder, daß sie heute schon darauf gewartet hätten, daß er umfalle, und dann sei er doch tatsächlich umgefallen, aber sie hätten ihn aufgefangen und in den Sanitätsraum getragen, oder daß er heute ganz besonders doof aus der Wäsche gekuckt habe, als er umgefallen sei, oder, daß... Dann verbot ihm der Arzt jede körperliche Anstrengung. Vom Turnen wurde er befreit. Das brachte zwar wieder Ordnung in die Klasse (bei der Turnstunde), aber immer, wenn er mal wieder in die Schule kam (Schon fast nur noch: vorbeikam, sagte Legaus), stellten sich diejenigen, die noch vor ihm lagen (standen, betonte Legaus mit einem Seitenblick auf den Dachdecker) neben ihn und mußten sich geschlagen geben. Einer nach dem anderen. Bis er ganz vorne war. Ganz oben. Groß. Endlich groß (Gleichzeitig aber auch unten. Am Boden. Wörtlich meistens. Auch moralisch.) Aber das kommt noch. Er war ganz oben. In der Schule gab es für ihn nichts mehr zu erreichen. Was aiso hätte er dort noch sollen. Er hörte auf. So hätte es sein können. So war es nicht. Nicht ganz, sagte Legaus. Es war so, daß mit seinem Körper auch seine Haare an Länge gewannen. Was ihn suspekt machte. Damals. Für die Eltern, für die Lehrer, für den Direktor, ein in Ehren ergrautes Männchen, väterlich besorgt um seine Schüler. So sahen ihn die anderen. So sah ihn jeder. Auch er. Bis dieses graue Männchen mit zornrotem Kopf vor ihm stand und ihn lauthals anbrüllte: Solche Leute wie Sie können wir hier nicht gebrauchen Da war es aus mit der Schule. Vorerst. Endgültig. Vorerst. So war es zwar. Aber das war nicht alles. Das andere kommt noch. Wie es hätte noch sein können: Er war ein Winzung. Ein gescheites, nicht sonderlich strebsames, blasses braves Bürschchen. In der Volksschule schon immer der Beste gewesen. Daß er der beste Schüler gewesen sei, den er je gehabt habe, soll einmal ein Lehrer zu ihr gesagt haben, hatte die Mutter gesagt, dachte er, auch im Klostergymnasium war er noch Primus gewesen... immer noch rein... Jetzt konnte sich der Dachdecker nicht mehr halten, prustete los, bog sich vor Lachen: Rein, lallte er, rein. Legaus heß sich nicht beirren, sicherte sich mit einem Seitenblick auf Edgar Wilhelm dessen Einverständnis und erzählte weiter: Immer noch rein, brav, unschuldig und blitzgescheit (hatte die Mutter gesagt), aber schon ziemlich faul (hatte die Mutter auch gesagt), kam er in die Stadt. Gleichzeitig mit dem Ortswechsel der Lebenswandel. Weithin sichtbares äußeres Zeichen: das ungewöhnliche Wachstum (Körper und Haare). Er wurde groß, krank und neugierig. Und noch fauler (hatte die Mutter gesagt). Plötzlich war er bei den Schlechten der Klasse, bei denen, die sich hit-66-Plaketten an die Jacke steckten, oder an den Nickipullover, ihre Haare nicht schneiden ließen... Zumindest versuchten wir uns dagegen zu wehren, sagte Legaus. ... und sich für Musik und Mädchen interessierten und für Mädchen und Musik. Und für Politik (aber das kommt später: Aus dem kleinen behüteten braven Primus war ein großer auffallender aufmüpfiger Durchfaller geworden. Ein Luftikus. Ein Philou. (Hatte die Mutter gesagt) Ein Taugenichts. Ein Träumer. so hätte es auch sein können. So war es auch. Aber das war nicht alles, sagte Legaus. Das andere kommt noch. Er hatte sein Ziel erreicht, dachte er, er war groß geworden, er war das geworden, was er hatte werden wollen, genau das, was er jedem gesagt hatte, der ihn gefragt hatte, was er denn werden wolle, nur groß hatte er gesagt, dachte er, immer nur groß, und jetzt war er groß geworden, was hätte er denn jetzt noch werden sollen, hatte er gedacht, dachte er, er hatte alles erreicht ... Und trotzdem hatten die Leute nicht aufgehört zu fragen was er denn werden wolle, was er denn jetzt werden wolle, wo er doch jetzt groß sei, dann hatte er ihnen eben gesagt, daß er groß sei, aber das hatte niemanden interessiert, obwohl sie es alle bemerkt hatten, dachte er, jeder hätte es sehen können, und alle hatten es gesehen; obwohl sie immer wieder gesagt hatten, bist du aber groß, oder, Mensch, du bist ja ein Riese, oder, du hörst ja gar nicht mehr auf zu wachsen, oder, neulich noch so klein und jetzt so groß, oder, wie ist denn die Luft da oben, oder... Und dann hatte er gesagt, ich bin es geworden, versteht ihr, ich bin es geworden, ich bin groß geworden, wie man Lokomotivführer oder Generaldirektor wird, oder Zirkusclown oder Löwenbändiger, ich bin es geworden, und jetzt stehe ich da in meiner vollen Größe, und ihr fragt mich immer noch: was willst du denn mal werden? Und sie hatten solange danach gefragt, dachte er, bis er es hatte nicht mehr hören können, solange hatten sie ihn mit dieser Frage belästigt, bis er sich gesagt hatte, na gut, hatte er sich gesagt, na gut... Na gut, sagte Legaus. Dann ist er doch noch etwas geworden. Ihnen zuliebe. Den Leuten zuliebe. Seinen Eltern, seinen Verwandten zuliebe. Der Tante an der Ecke, die er Tante nannte, obwohl sie nicht seine Tante war. Der Metzgersfrau, dem Lebensmittelhändler und dem Pater Marian zuliebe. Und dem Mädchen aus der 8b. Aber das kommt später, sagte Legaus. Als er dann doch noch etwas geworden war, einen ehrbaren Beruf erlernt hatte, wollte er, diesmal aus eigenem Antrieb, noch mehr werden. Also wurde er Abiturient (doch noch!), Student, schließlich Absolvent. Jetzt waren auch seine Eltern zufrieden: Er war etwas geworden. Aus ihm ist doch noch etwas geworden, sagten sie, endlich ist aus ihm etwas geworden. Als er dann weder den einen noch den anderen seiner Berufe ausübte, war er in ihren Augen schon wieder nichts mehr. Was soll bloß aus dir werden? Was soll bloß aus dir werden, sagten sie jetzt, seufzten angestrengt hörbar, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, vergruben ihre Stirn. Was soll bloß aus dir werden, sagten sie, und Wann wirst du endlich mal vernünftig?